Nanogate: Alle Insolvenzverfahren nach rechtskräftiger Bestätigung der Insolvenzpläne aufgehoben

09.01.2024, Matthias Bayer

St. Ingbert / Göttelborn, 09.01.2024. Das Amtsgericht Saarbrücken hat alle Insolvenzverfahren nach Bestätigung der Insolvenz(liquidations)pläne am 11.12.2023 aufgehoben. Damit endet eine der komplexeren Konzerninsolvenzen der letzten Jahre durch verfahrensleitende Liquidationspläne nach einer Gesamtverfahrensdauer von lediglich 3 ½ Jahren.

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Ein Rück- und Überblick:

23.06.2020: Nanogate geht unter den Schutzschirm

Nanogate, ein bis dahin weltweit führendes börsennotiertes Technologieunternehmen für designorientierte, multifunktionale Komponenten und Oberflächen mit einzigartigen Veredelungslösungen wie Radar durchlässig, Transluzenz, Korrosionsschutz, Kratzfestigkeit sowie Antihaft- bzw. Easy-to-clean-Eigenschaften, kann ein - nach zunehmenden konjunkturellen Verwerfungen in der Automobilindustrie, geringen Abrufzahlen, verschobenen Neuprojekten und operativen Schwächen - ausgearbeitetes Sanierungskonzept angesichts der COVID-19 Pandemie nicht mehr umsetzen.

Der Vorstand der Nanogate SE, sowie die Geschäftsführungen von fünf Konzerntöchtern entschließen sich beim Amtsgericht Saarbrücken ein Schutzschirmverfahren in Eigenverwaltung (nach §§270 ff. lnsO) zu beantragen.

Die übrigen größeren Standorte in Schwäbisch-Gmünd und in Böblingen sowie die internationalen Tochtergesellschaften in der Slowakei, den Niederlanden und in den USA sind davon direkt zunächst nicht betroffen / sollen ohne Insolvenzverfahren in die Sanierung mit eingebunden werden.

Der Konzern besteht zu diesem Zeitpunkt aus 23 Gesellschaften und Beteiligungen, beschäftigt konzernweit fast 1.800 Mitarbeiter und erwirtschaftet im Vorjahr knapp 240 Mio. € Umsatz.

Abel und Kollegen übernehmen Generalhandlungsvollmachten

Nanogate entscheidet sich für das Instrument des Schutzschirmverfahrens in Eigenverwaltung, weil damit die Voraussetzungen für eine zügige und nachhaltige Restrukturierung des Geschäfts in einem schwierigen Marktumfeld geschaffen werden können.

Sanierungsexperten von Abel und Kollegen rund um den verfahrensleitenden Rechtsanwalt und Partner Matthias Bayer ergänzen das Management. Sie verfügen über erhebliche Erfahrung im Rahmen von Schutzschirmverfahren.

Ziel ist es, möglichst viele der konzernweit fast 1.800 Arbeitsplätze zu erhalten, das Unternehmen insgesamt langfristig profitabel auszurichten und einen Investor für das im Wesentlichen nachhaltige Geschäftsmodell zu finden.

Amtsgericht ordnet vorläufige Eigenverwaltungen an

Das AG Saarbrücken ordnet sechs vorläufige Eigenverwaltungen an. Zum vorläufigen Sachwalter ernennt es gruppenweit jeweils den Saarbrücker Rechtsanwalt Günther Staab (Kanzlei Staab und Kollegen). Es bestellt ferner auf Antrag der Eigenverwaltung sechs Gläubigerausschüsse.

Gut einjährige Fortführung in Eigenverwaltung

Der Betrieb aller Einheiten wird in vollem Umfang in Eigenverwaltung fortgeführt. Die Mitarbeiter erhalten vorfinanziert für Juni bis August 2020 Insolvenzgeld. Kunden und Geschäftspartner bekommen weiterhin Produkte in hoher Qualität mit der gewohnten Liefertreue. Geplante Neuanläufe setzen ein, das hierfür notwendige produktspezifische Investitionsprogramm wird realisiert.

Ab Verfahrenseröffnung (September 2020) wird die Fortführung u.a. insbesondere zweier Standorte in Nordrhein-Westfalen abgesichert durch Fortführungsvereinbarungen mit den beteiligten Kunden und Stand Still Vereinbarungen mit den beteiligten Banken / Finanzierern sofern und soweit nicht insolvente Gruppenunternehmen weltweit in den Haftungsverbund der insolventen Gruppenunternehmen eingebunden waren.

Dreigleisiger Investorenprozess

Auf Grundlage der hiernach gefundenen Stabilität startet ein weltweiter Investorenprozess. Dabei wird ergebnisoffen auf ein „dreigleisiges“ M&A-Verfahren gesetzt:

Der eine Teil der Interessenten für das Kerngeschäft beabsichtigt, sich an einer Kapitalerhöhung nach vorheriger Herabsetzung auf Null zu beteiligen, wobei der Mittelzufluss zur Finanzierung des künftigen Geschäfts sowie der anteiligen Befriedigung der Gläubiger verwendet werden soll; ein anderer Teil der Interessenten will das Kerngeschäft indes lieber als wesentliche Beteiligungen sowie Vermögenswerte via Asset Deal kaufen und diese so aus dem Konzern herauslösen. Parallel bewerben sich Interessenten für einzelne Konzernunternehmen bzw. Geschäftsfelder („Non Core Business“).

Oktober 2020 bis Juni 2021

Die Verhandlungen dauern an. Es gehen diverse indikative Angebote ein. Der strukturierte M&A Prozess mit knapp 100 angesprochenen potentiellen Interessenten, von denen allein für das Kerngeschäft 30 Interessenten ein NDA gezeichnet und 10 indikative Angebote abgegeben hatten, mündet nach ausführlichen Due Diligence Prozessen in mehreren verbindlichen Angeboten für das Kerngeschäft sowie das Non Core Business.

Mai 2021 Verkauf des Kerngeschäfts

Techniplas setzt sich durch und übernimmt die wesentlichen Vermögenswerte der Nanogate SE und der insolventen Tochtergesellschaften Nanogate Management Services GmbH, Nanogate NRW GmbH, Nanogate PD Systems GmbH und Nanogate Neunkirchen GmbH im Wege sogenannter „Asset Deals“ sowie die von der Nanogate SE gehaltenen, dem Kerngeschäft zuzurechnenden Beteiligungen an nichtinsolventen Tochtergesellschaften (u.a. Nanogate North America LLC, Nanogate heT Engineering GmbH, Nanogate Netherlands B.V., Nanogate Schwäbisch Gmünd GmbH, Nanogate Slovakia s.r.o.). Der Kaufpreis liegt im mittleren zweistelligen Millioneneurobereich.

Die einzigartigen und firmeneigenen Fertigungskapazitäten der Nanogate-Gruppe sollen die Kernkompetenzen von Techniplas im Bereich Spritzguss strategisch ergänzen. Das entstehende Unternehmen mit dann 25 Standorten verfügt über ein komplettes Angebot an Spritzguss- und Veredelungskapazitäten.

Die Umsetzung der Transaktion steht noch unter dem Vorbehalt des Eintritts verschiedener Bedingungen.

Auch Non Core Business findet motivierte Käufer

Auch für die verbleibenden Tochtergesellschaften Nanogate Textile & Care Systems GmbH, Nanogate Electronic Systems GmbH, Nanogate Kierspe GmbH und die Nanogate Medical Systems GmbH finden sich hoch motivierte strategische Käufer, die die Geschäftsbetriebe fortführen.

Komplexe Konzernfinanzierungs- und Haftungsstrukturen

Die Finanzierungs- und Haftungsstrukturen sind komplex. Beteiligt sind u.a. drei Bankenkonsortien mit jeweils unterschiedlichen Konsorten und Konsortialquoten und Forderungen über insgesamt noch ca. 70 Mio. € sowie unterschiedlichen mithaftenden insolventen und solventen Tochterunternehmen; ferner mehr als 30 Schuldscheindarlehensgläubiger mit einer Gesamtvaluta von 50 Mio. €, denen gegenüber ebenfalls wiederum insolvente und nicht insolvente Konzerntöchter mithaften. Hinzu kommen teilweise Ergebnisabführungsverträge und schließlich unterschiedlichste Kundenstrukturen, nicht nur aus der Automobilindustrie mit völlig unterschiedlichen Lieferumfängen, Interessen bzgl. der verschiedenen Standorte und Übung in Handhabung von kritischen Situationen.

Vollzug des Verkaufs des Kerngeschäfts zum 01.06.2021

Trotz unterschiedlicher Interessen und Besicherungslagen stimmen alle (!) wesentlichen Stakeholder einstimmig den Verkäufen zu, geben Mithaftungen für nicht insolvente Tochterunternehmen frei und schließen neue Lieferverträge mit dem neuen Unternehmen ab. Basis hierfür ist Vertrauen, begründet durch Transparenz: bereits während des M&A Prozesses baut die Eigenverwaltung in Zusammenarbeit mit dem Vorstand / CFO der Nanogate eine laufend aktualisierte Master-Datei auf, mit der sie die jeweils prognostizierte Masseentwicklung der einzelnen Verfahren und Quotenzahlungen einzeln und kumuliert, unter Berücksichtigung von Absonderung, (mitunter mehrfachen) Mithaftungen, Kaufpreisgeboten der unterschiedlichen Interessenten, erwarteten Einnahme- Überschüssen aus Fortführungen, unechten Massekrediten und Insolvenztabelle(n) etc. bis hin auf Einzelgläubigerebene (und wie sich im Nachhinein herausgestellt hat) zuverlässig prognostiziert und regelmäßig (neben der Geschäftsentwicklung) nicht nur in Gläubigerausschüssen, sondern auch in Runden mit Banken und Schuldscheindarlehensgeber kommuniziert. Ferner lässt die Eigenverwaltung die Teilepreise nachkalkulieren, um operative Schwächen ebenso wie nicht auskömmliche Deckungsbeiträge aufzudecken.

Nach Vollzug aller Kaufverträge kein operatives Geschäft mehr

Die Nanogate SE verfügt nach dem Vollzug über kein operatives Geschäft mehr. Gleichwohl wird kein Wechsel in ein Regelverfahren erwogen, sondern entschieden, die Börsennotierung der Nanogate SE im Basic Board der Frankfurter Wertpapierbörse zu beenden sowie in Abstimmung mit den Gläubigerausschüssen die Verfahren zügig über verfahrensleitende Insolvenzliquidationspläne abzuwickeln und die Rechtsträger, die Nanogate SE und die ebenfalls insolventen Tochtergesellschaften abzuwickeln und aufzulösen (Liquidation).

2022/2023: Restabwicklung, Planerstellung, -abstimmung und Planbestätigung

Nach der Idee der Insolvenzpläne wird das Vermögen aller schuldnerischen Unternehmen nach der gleichen Systematik an die jeweiligen Gläubiger der Insolvenzschuldnerinnen mittels aufeinander abgestimmter Insolvenzpläne, die – sofern einschlägig, auch konzernrechtliche Besonderheiten wie Ergebnisabführungsverträge berücksichtigen – ausgekehrt.

„Führend“ ist der Insolvenzplan im Verfahren der Nanogate SE, der zuerst vollzogen werden soll und somit auch die Barmassen der Tochterunternehmen mit speist, die dann wiederum ebenfalls mittels Insolvenzplänen an die dort beteiligten Insolvenzgläubiger verteilt werden. Gläubiger, die Forderungen aus Mithaftungen gegen die Nanoagate SE als Insolvenzschuldnerin und zudem gegen einzelne ihrer ebenfalls insolventen Töchter haben, erhalten mithin gegebenenfalls mehrere Quotenzahlungen; Gläubiger die gegen eine insolvente Tochter eine Forderung haben, die ihrerseits Forderungen gegen die Nanogate SE hat und/oder mit dieser ein Ergebnisabführungsvertrag abgeschlossen hatte, partizipieren ebenfalls über die Quotenzahlung, die von der Mutter an die Töchter geleistet werden. Liquidationsüberschüsse für Aktionäre verbleiben keine.

Abstimmungstermin Ende April 2023

Sachwalter und die Gläubigerausschüsse befürworten die Insolvenzpläne. Die Gläubiger nehmen sie jeweils einstimmig an. Das Amtsgericht bestätigt sie umgehend.

Die Auszahlung der Basisquoten erfolgt Mitte 2023. Nach Festsetzung und Begleichung aller Verfahrenskosten und Hinterlegung von Rückstellungen für noch durchzuführende Schlussmaßnahmen hebt das Insolvenzgericht im Dezember 2023 die Insolvenzverfahren auf.

Ein komplexes Konzern-Insolvenzverfahren ist beendet.

Verfahrensergebnis

Knapp 1600 Arbeitsplätze bleiben erhalten. Insolvenzgläubiger bekommen je nach Besicherung durchschnittlich eine Gesamtquote im zweistelligen Prozentbereich auf ihre angemeldete Insolvenzforderung. Die Verfahrensdauer inkl. vorl. Eigenverwaltung beträgt 3 ½ Jahre.

Sollten Rückstellungen für Schlussmaßnahmen nicht verbraucht werden, können Insolvenzgläubiger noch mit einer zusätzlichen Quotenauszahlung rechnen.

Ein besonderer Dank gilt allen Beteiligten, die stets professionell und konstruktiv mit großer Ausdauer und hohem persönlichen Einsatz auch in schwierigen Phasen die Verfahren teilweise auch bis zuletzt begleitet haben, u.a.:

Allen Gläubigerausschussmitgliedern sowie den verfahrensführenden Rechtspfleger/innen und Herrn Richter Mahler

Inhouse Nanogate, stellvertretend u.a. Götz Gollan, Robert Wittmann, Martin Hendricks, Michael Kohler, Marc Zimmermann, Klaus Schott, Rolf Danzebrink, Michael Vedder, Stefan Rixecker, Murat Ayhan, Thomas Nickel, Uwe Dreyer, Holger Zytur, Salah Bendjabalah, Markus Monzel, Wolfgang Schmidt, Selin Richter, Patrick Hildebrandt, Christoph Scholz, Wolfram Haesslein, Esther Leithäuser, Patrik Weber von Freital, Johannes Göllmann, Katja Jungmann, Susanne Wohlfahrt und Marion Backes u.v.a.

  • Beteiligte Berater (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
  • Rechtsanwalt Matthias Bayer (Verfahrensleitung, M&A, Corporate / Abel und Kollegen)
  • Rechtsanwalt Franz Abel (Insolvenzrecht / Abel und Kollegen)
  • Rechtsanwalt Lukas Eisenhuth (M&A /Abel und Kollegen)
  • Rechtsanwalt Dr. Sebastian Mohrs (Arbeitsrecht / Abel und Kollegen)
  • Rechtsanwalt Dr. Christopher Salm (Insolvenzplan und Arbeitsrecht)
  • Rechtsanwältin Dr. Marlies Raschke, Rechtsanwalt Dr. Uwe Bendler und Team (M&A Kerngeschäft/ Noerr)
  • Rechtsanwalt Prof. Dr. Pleister (M&A Kerngeschäft / Noerr)
  • Rechtsanwältin Dr. Ethel Nanaeva (Vertretung Nanogate gegenüber SSD-Gläubiger / Noerr)
  • Rechtsanwalt Justizrat Günter Staab und zeitweise Rechtsanwalt Henrik Barthen (Sachwaltung)
  • Daniel Kiechle, Nikolas Bächstädt und Julia Rall (M&A, Stifel Europe)
  • WP / StB Christian Mehltretter (Tax Nanogate)
  • WP / StB Dr. Joachim Dannenbaum und Team (Plausibiliserung Liquiditätsplanung / Mazars)
  • Florian Schulze, Frank Peukmann (Mentor AG Kassenprüfung)
  • Volker Ernst EK Dienstleistungen (Insolvenzbuchhaltung / Insolvenzgeld)
  • Rechtsanwälte Andreas Ziegenhagen und Jan Seelinger (gemeinsame Vertreter der SSD Gläubiger / Dentons)
  • Rechtsanwalt Dr. Daniel Fritz (Vertreter Kunde/ Dentons)
  • Rechtsanwalt Dr. Sven Tischendorf und Team (ACT / Vertreter Techniplas)
  • Christian Dose und Susanne Horstmann (WMP Finanzkommunikation)

Matthias Bayer

Rechtsanwalt
Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht

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