Strafverfahren, Medien und Unschuldsvermutung

Im Jahre 1784 wurde in England der „Gang nach Tyburn“ – oder auch die „Prozession nach Tyburn“ genannt – abgeschafft. Damit war das Ende der bis dahin geradezu zelebrierten öffentlichen Hinrichtung besiegelt. Denn sie war zu einem Rummel verkommen, bei welchem der Karren mit dem gefesselten Delinquenten durch die von Schaulustigen gesäumten Straßen gefahren wurde.

Um den Galgen herum hatte sich mit Tribünen und Marktständen eine Art Kirmes entwickelt. Nach der Reform wurden die Hinrichtungen in aller Schlichtheit unmittelbar vor den Gefängnismauern vollzogen, indem der herausgeführte Verurteilte nach einem kurzen Gebet aufgehängt wurde. Späterhin wurde die Exekution ins Gefängnis verlegt. Also: Schluss mit dem Spektakel!

Die erwähnten Zeiten sind glücklicherweise vorüber. Freilich sind Strafverfahren nach wie vor von einem besonderen öffentlichen Interesse. Damit geht eine mediale Beachtung durch Presse, Fernsehen und sonstige Medien einher. Nahezu keine Zeitung kommt nämlich ohne Kriminalberichterstattung aus. Gleiches gilt für diverse TV- und Radiosender. Das Interesse erstreckt sich hierbei auf das gesamte Strafverfahren; also vom Ermittlungsverfahren mit etwaigen Durchsuchungen und Verhaftungen bis zur Hauptverhandlung einschließlich der Beweisaufnahme, an deren Ende zumeist ein Urteil steht. Angesichts der Medienöffentlichkeit wurde beklagt, dass das Tribunal zur Szene verkommen sei. Zudem sind Gefahren für die Rechte des Beschuldigten nicht von der Hand zu weisen. Es geht um die Problematik der Vorverurteilung: der moderne Medien-Pranger ist die negative Seite der Medienöffentlichkeit.

Aus der Sicht des Betroffenen bildet vor Allem die Unschuldsvermutung den Gegenpol. Aber was geschieht, wenn dieser fundamentale Grundsatz verletzt wurde? Der Bundesgerichtshof (BGH, Urt. v. 07.09.2016 – 1 StR 154/16) hat sich in einer aktuellen Entscheidung dieser Problematik angenommen. Der Entscheidung lag – grob skizziert – folgender Sachverhalt zugrunde:

Gegen die Beschuldigten wurde u.a. wegen Banden- und Wohnungseinbruchsdiebstahls ermittelt. Unmittelbar vor Beginn der Hauptverhandlung kam es zur Ausstrahlung einer TV-Sendung zum Thema „Wohnungseinbruchsdiebstahl“, bei welcher der polizeiliche Sachbearbeiter mitwirkte. Die Angeklagten wurden verpixelt gezeigt. Der Beamte sprach in einem Interview von „Tätern“, „Bandenmitgliedern“ sowie von einer „Einbrechergruppierung“. Trotz Verpixelung sind die Beschuldigten teilweise erkannt worden.

Während das Landgericht Stuttgart als Vorinstanz wegen einer Verletzung der Unschuldsvermutung einen Strafrabatt von zwei Monaten gewährte, lehnte der BGH dies ab. Seiner Auffassung stellen Art und Inhalt der TV-Berichterstattung im vorliegenden Fall keine öffentliche Vorverurteilung dar. Zu berücksichtigen seien nämlich die Wortwahl in dem Beitrag sowie die sonstigen Umstände wie Verpixelung, keine Namensnennung sowie keine relevante Verbreitung der Sendung. Umgekehrt wird aber auch festgehalten, dass das Verhalten des polizeilichen Ermittlungsbeamten nicht unbedenklich gewesen sei.

Des Weiteren hebt der BGH die Bedeutung der Unschuldsvermutung hervor. Denn dieser Grundsatz wird verletzt, wenn eine gerichtliche Entscheidung oder eine Äußerung eines Amtsträgers die Auffassung widerspiegelt, eine beschuldigte Person sei schuldig, bevor der gesetzliche Nachweis der Schuld erbracht ist. Die Konsequenzen mussten indessen nur angedeutet werden. Sie können von einer Einstellung des Verfahrens bis zu einem Strafrabatt reichen. In Zukunft muss daher im Einzelfall genau abgewogen werden: Liegt nach den spezifischen Umständen eine Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung vor? Wenn ja, wie kann diese konkret kompensiert werden? Festzuhalten ist, dass die Unschuldsvermutung nicht schrankenlos gilt.

Prof. Dr. Guido Britz

Rechtsanwalt
Strafrecht
Strafprozessrecht

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