Dieses Postulat war zwar keine Erfindung Kants, doch erst er versteht unter dem Begriff der Würde einen Wert, der durch keinen Preis aufgewogen werden kann, sondern ein eben unbedingter und unvergleichbarer Wert an sich und damit absolut ist, unverlierbar und unverzichtbar.
Das ist nun aber nicht bloß theoretische Definition, sondern wirkt ganz praxisnah über den zitierten Grundgesetzartikel in alle Bereiche staatlichen Handelns hinein und natürlich auch in die Rechtsprechung, vor allem auch die des Bundesverfassungsgerichts als „Hüterin der Verfassung“:
Ob ein zu lebenslanger Haft Verurteilter dennoch die Aussicht haben muss, nochmals frei zu kommen (ja), ob der Gesetzgeber ein menschenwürdiges Existenzminimum zu garantieren hat (natürlich) und ob gar ein Gesetz den Abschuss eines zwecks terroristischen Angriffs gekaperten Passagierflugzeugs zur Gefahrenabwehr erlauben darf (nein) – die Kant´sche Beschreibung der Würde wird in den jeweiligen Gerichtsentscheidungen übernommen. Im letztgenannten Beispiel hilft Kant bei der Feststellung, dass die Anzahl von Opfern im Flugzeug und auf der Erde nicht etwa gegeneinander aufgewogen werden dürfen: Die Würde der Menschen ist eben auch nicht quantifizierbar.
Die prominente Stellung dieses und der weiteren Grundrechtsartikel gleich am Anfang des Grundgesetzes soll unübersehbar den Stellenwert der individuellen Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber jedweder staatlichen Gewalt zementieren. Das ist im Vergleich zu Verfassungen anderer Länder ungewöhnlich und sollte vier Jahre nach Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft die Abkehr von jedem völkischen Gemeinwohldiktat, das die Volksgemeinschaft über das Individuum stellt, festschreiben – und zwar auf Dauer, denn u.a. die Grundsätze des Art. 1 dürfen niemals und auch durch kein Gesetz angetastet werden.