Zwei große Jubiläen

28.05.2024, Hans-Robert Ilting

Dieser Tage standen zwei Jubiläen an: Das Grundgesetz ist 75 Jahre alt geworden und der große Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, feiert den 300. Geburtstag. Wer Verbindendes sucht, wird schnell fündig: Schon im ersten Satz des ersten Grundgesetzartikels heißt es mahnend: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Dieses Postulat war zwar keine Erfindung Kants, doch erst er versteht unter dem Begriff der Würde einen Wert, der durch keinen Preis aufgewogen werden kann, sondern ein eben unbedingter und unvergleichbarer Wert an sich und damit absolut ist, unverlierbar und unverzichtbar.

Das ist nun aber nicht bloß theoretische Definition, sondern wirkt ganz praxisnah über den zitierten Grundgesetzartikel in alle Bereiche staatlichen Handelns hinein und natürlich auch in die Rechtsprechung, vor allem auch die des Bundesverfassungsgerichts als „Hüterin der Verfassung“:

Ob ein zu lebenslanger Haft Verurteilter dennoch die Aussicht haben muss, nochmals frei zu kommen (ja), ob der Gesetzgeber ein menschenwürdiges Existenzminimum zu garantieren hat (natürlich) und ob gar ein Gesetz den Abschuss eines zwecks terroristischen Angriffs gekaperten Passagierflugzeugs zur Gefahrenabwehr erlauben darf (nein) – die Kant´sche Beschreibung der Würde wird in den jeweiligen Gerichtsentscheidungen übernommen. Im letztgenannten Beispiel hilft Kant bei der Feststellung, dass die Anzahl von Opfern im Flugzeug und auf der Erde nicht etwa gegeneinander aufgewogen werden dürfen: Die Würde der Menschen ist eben auch nicht quantifizierbar.

Die prominente Stellung dieses und der weiteren Grundrechtsartikel gleich am Anfang des Grundgesetzes soll unübersehbar den Stellenwert der individuellen Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber jedweder staatlichen Gewalt zementieren. Das ist im Vergleich zu Verfassungen anderer Länder ungewöhnlich und sollte vier Jahre nach Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft die Abkehr von jedem völkischen Gemeinwohldiktat, das die Volksgemeinschaft über das Individuum stellt, festschreiben – und zwar auf Dauer, denn u.a. die Grundsätze des Art. 1 dürfen niemals und auch durch kein Gesetz angetastet werden.

Hans-Robert Ilting

Rechtsanwalt
Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht
Fachanwalt für Erbrecht
Zertifizierter Testamentsvollstrecker (AGT)

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